Empfehlung: „Der erste Sohn“

Der Sommer naht. Wir empfehlen Urlaubslektüre. Den Anfang macht Eric Angerer mit Philipp Meyers Roman „Der erste Sohn“, der schon bald nach seinem Erscheinen als „moderner amerikanischer Klassiker“ gefeiert wurde.

Ein Epos über den Gründungsmythos der USA. Meyer gestaltet die Geschichte der Eroberung des amerikanischen Westens als große Familiensaga. Es ist der Kampf des texanischen Clans der McCulloughs während der letzten 150 Jahre um Land, Öl und Macht

Eli McCullough ist der erste Sohn der neuen Republik Texas, die am 2. März 1836 gegründet wird. Seine Eltern gehören zu jenen Siedlern, die sich ins Indianerland vorwagen, ein Paradies, das alles verheißt – nur keine Sicherheit. Bei einem Komantschenüberfall wird die Familie ausgelöscht. Eli wird verschleppt und wächst bei den Indianern auf. Als diese dem Druck der Weißen nicht mehr standhalten können, kehrt er zurück in eine ihm fremde Welt.

Meyer gestaltet ein detailgenaues und vielschichtiges Bild einer Familie aus Texas von der Gründung der texanischen Republik im Jahr 1836 bis zum Jahr 2012. Ein Familienepos, das über Generationen hinweg das Schicksal der McCulloughs aus verschiedenen Perspektiven schildert.


Einmal eben aus der Sicht des Colonels, Eli McCullough, der in seinen grausamen Entführern eine neue Familie findet und sich ihre Lebensweise aneignet. Sein Leben führt ihn von den Indianern zum Bürgerkrieg, von der Rinderzucht zum Ölgeschäft.

Dann wieder wird die Handlung aus der Perspektive seines sensiblen Sohnes Peter, der mit seiner poetischen Persönlichkeit deplatziert wirkt auf der Farm seines Vaters, und der mit diesem nur allzu wenig gemeinsam hat, erläutert.

Und dann gibt es noch die Perspektive von J.A. McCullough, der Urenkelin des Colonels. Sie hat sich ihren Urgroßvater, den Patriarchen, zum Vorbild genommen und schafft es zu nicht unbeträchtlichem Erfolg in der Ölindustrie. Schon als Kind ist sie geleitet von dem Gedanken, als Frau in einer männerdominierten Welt zu bestehen.

Der ständige Perspektivenwechsel ist anfänglich gewöhnungsbedürftig, macht den Roman dann aber immer spannender, zu einem echten Page-Turner. Meyer fesselt mit wortgewaltiger Sprache und eindrücklichen Bildern und führt so durch sein 600-Seiten-Epos.

2009 debütierte der aus New York stammende US-Amerikaner Philipp Meyer mit seinem Roman „Rost“, der in einem heruntergekommenen Städtchen in Pennsylvania angesiedelt war und dessen Figuren sich vor dem Hintergrund des Niedergangs der Stahlindustrie durchs Leben kämpfen.

Für „Der erste Sohn“ hat Meyer jahrelang die amerikanische und besonders die texanische Geschichte studiert. Das merkt man an der Authentizität der Beschreibungen. Beispielsweise hat der Autor sicherlich die autobiografischen Texte von Rachel Parker-Plummer und Herman Lehmann gelesen, die als Kinder von den Komantschen verschleppt worden waren und später ihre Erinnerungen aufschrieben.


Gerade auch Meyers Schilderungen der indianischen Lebensweise sind sehr stark – brutal realistisch und jenseits von romantischen Verklärungen, wie man sie von Karl May über „Der mit dem Wolf tanzt“ bis zu aktuellen „Postkolonialisten“ findet. Wie alle Steinzeitkulturen waren die nordamerikanischen Ureinwohner sehr naturverbunden, lebten allerdings auch vor ihrer Verdrängung durch die USA keinesfalls in Frieden und Harmonie.

Die Stämme der nordamerikanischen Prärieindianer überfielen sich routinemäßig gegenseitig, um junge Mädchen zu rauben. Nachdem den Spaniern in Mexiko immer wieder Pferde entlaufen waren und die Indianer sie fingen und züchteten, veränderte sich die Kultur der Stämme der Prärie erheblich: Etwa 150 Jahre lang bestand die Lebensweise, die in etwa dem europäischen Klischee von „Indianern“ entspricht. Die Bisonjagd und Raubzüge gegen andere Stämme und nach Mexiko waren beritten noch viel besser möglich.

Dabei entwickelten sich die Komantschen, die am Höhepunkt etwa 30.000 Menschen umfassten, zur lange Zeit vorherrschenden Macht. Sie hatten als erste Zugang zu Pferden, konnten deshalb besonders erfolgreich Menschen aus anderen Stämmen rauben und waren demografisch stark angewachsen. Das und ihre militärische Macht nutzten sie, um andere Stämme zu verdrängen und auch den Zugang zu den etwa sieben Millionen Bisons zu kontrollieren, also andere Stämme davon auszuschließen. Und sie galten als besonders grausame Folterer ihrer indianischen und weißen Gefangenen.

In diese Welt der zuerst noch mächtigen und dann niedergehenden Kultur kann man durch Meyers Roman eintauchen. Er macht sie rund um persönliche Biografien geradezu lebendig. Und Ähnliches gelingt ihm für die nachfolgenden Generationen im Texas des 20. Jahrhunderts.

Eindrucksvoll sind auch Meyers Beschreibungen der Landschaften und Naturräume. Dazu hat er  Flora und Fauna eines beinahe paradiesischen Texas recherchiert, so wie es aussah, bevor ihm riesige Rinderherden den Garaus machten. Die Komantschen etwa essen nicht nur Bison, sondern finden auch Feigenkakteen, wilde Pflaumen, Bohnen vom Mesquitebaum und wilde Kartoffeln.

Mein Fazit: Wer Zeit und Muße hat, im Urlaub 600 Seiten zu lesen, der wird mit einer packenden Erzählung und Einblicken in Geschichte und Mentalität der US-amerikanischen Nation belohnt. Eine Nation, die aktuell durch Donald Trumps MAGA-Bewegung und ihre Herausforderung des Globalismus wieder einmal eine Zeitenwende einläuten könnte.


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